Email des Vorsitzenden der IG BCE - Mehr Solidarität wagen
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die vergangenen Wochen und Monate waren geprägt durch die nach wie vor anhaltende Corona-Krise. Der Schutz vor Infektion und die Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen standen, vollkommen zu Recht, im Mittelpunkt des Handelns und der tagespolitischen Debatten - auch in unseren Betrieben und Branchen, in unserer IG BCE und der ganzen Gewerkschaftsfamilie.
Kurzfristig waren und sind viele neue Fragen zu beantworten. Die gesellschaftliche Debatte um die unterschiedliche Betroffenheit, Lasten und Unsicherheiten, mischt sich mit politischem Missbrauch durch Rechtsradikale, Populisten und Realitätsleugner. Das fordert eine aktive und überzeugende Politik. National wie international sind Zukunftsorientierung und Sicherheit gefragt. Tatsächlich verschärfen sich in der Pandemie eine Reihe nach wie vor ungelöster Konflikte.
Trotz Wirtschaftswachstum und insgesamt steigendem Wohlstand wird das Gefälle in der Einkommens- und Vermögensverteilung seit Jahren größer, in Deutschland wie in Europa und weltweit.
In dem Maße, wie das Gebot sozialer Gerechtigkeit verletzt wird, schwindet das Vertrauen in Politik und Demokratie, gewinnen extremistische und populistische Positionen an gesellschaftlichem Boden.
Mit der Sorge, ob dem Klimawandel rechtzeitig und ausreichend Einhalt geboten werden kann, geht eine sinkende Bereitschaft zur nüchternen Debatte um die zukunftsträchtigsten Wege der CO2-Reduktion einher.
In einer Zeit, wo es mehr denn je auf internationale Kooperation ankäme, dominieren nationale Egoismen und machtpolitisches Kalkül.
Obwohl keine der großen Menschheitsfragen ohne das Know-how und die Leistungskraft industrieller Innovation zu lösen sein wird, und obwohl die Wohlstandsgesellschaft zugleich immer höhere Anforderungen an Qualität und Verfügbarkeit von Produkten stellt, verliert industrielle Produktion an Unterstützung und Akzeptanz in unserem Land.
So anerkannt der Beitrag der Gewerkschaften ist, die Folgen der Pandemie sozial und wirtschaftlich zu bewältigen, so gering ist die Bereitschaft, die gewerkschaftliche Gestaltungskraft durch Tarifbindung, Mitbestimmung und schlicht Mitgliedschaft zu stärken.
Und so gerne heute der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Solidarität betont werden, so unzureichend beschäftigt sich die Politik zugleich mit der Frage, welche fundamentalen Bedingungen gegeben sein müssen, um diese Begriffe langfristig mit Leben zu erfüllen.
Ich bin überzeugt, dass die Gewerkschaften und gerade auch unsere IG BCE einen wichtigen Beitrag zur Orientierung unserer Kolleginnen und Kollegen, von Gesellschaft und Politik bieten können. Wir wollen dabei auch über Maßstäbe unseres Handelns und die Priorisierung unserer Ziele reden, in Deutschland und ebenso in Europa. Ohne Verständigung, nicht zuletzt über den konstitutiven Beitrag der Gewerkschaften für eine gute Entwicklung, fehlt der Kompass Richtung Zukunft.
In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wird man sich in nächster Zeit zwangsläufig wieder stärker mit der Frage befassen, was kommt nach Corona. Nicht nur wegen der bevorstehenden Landtags- und Bundestagswahlen, sondern weil viele große Herausforderungen zu beantworten sind.
Angelehnt an Willy Brandt empfehle ich: „Mehr Solidarität wagen“. Weil wir einen Aufbruch von ähnlicher Qualität wie zu Beginn der 70er Jahre brauchen, als es schon einmal darum ging, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihrer Gestaltungskraft und damit die Demokratie zu stärken. Unser Land hat sich damals auch fit gemacht für eine neue Epoche wirtschaftlicher Entwicklung.
Vor einer mindestens gleich großen Herausforderung stehen wir heute. Die Debatte darum haben wir bereits im vergangenen Jahr begonnen, mit unserem Zukunftskongress und vier Szenarien, wie sich Wirtschaft, Gesellschaft und Politik bis 2030 und darüber hinaus verändern könnten. Die Debatte um diese Perspektive 2030 werden wir weiterführen, insbesondere auf unseren Delegiertenkonferenzen und dann auf dem Kongress 2021.
Vorbereitend darauf und gezielt auf die aktuelle Lage wollen wir aber schon jetzt einen Anstoß geben, was kurz-, mittel- und langfristig zu tun ist – und woran wir uns orientieren und Entscheidungen anderer messen. Deshalb empfehle ich Euch sehr herzlich einen Blick in die beiliegenden „Schlussfolgerungen aus der Corona-Krise“ – und freue mich natürlich über jedes Feedback.
Bleibt gesund!
Glückauf!
______________________________________ Michael Vassiliadis Vorsitzender Vorstandsbereich 1 Gesamtleitung
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